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Zeiträume

 

„Für einen Augenblick schien es, als ob Gedanken wirksamer durch Bilder ausgedrückt werden könnten als durch Worte“ schrieb Virginia Woolf 1926 nachdem Sie in London die Aufführung des Films „Das Cabinet des Dr. Caligan“ gesehen hatte. Diese Aussage steht stellvertretend für die fortschreitende „Verflüchtigung des historischen Bewusstseins“ im 20. Jahrhundert aufgrund der Tatsache, dass Bilder (Oberflächencodes) in immer stärkerem Maße alphabetische Texte ersetzen.

Architektur als räumliche Baukunst diente bis zum 15. Jahrhundert als Medium der Gesellschaft. Bis dahin weitgehend von Bildern programmiert, bekam ein kleiner Teil durch die Erfindung in Schrift „mit dem Aufrollen des Bildes in Linien“ nun zunehmend Zugang zu den Texten. Daraus entwickelte sich allmählich das historische Bewusstsein. Der Buchdruck „erlaubte einem aufsteigenden Bürgertum zum historischen Bewusstsein der Elite vorzudringen“, während die Architektur die Funktion als Botschafterin der Vergangenheit verliert. Anfang des 20. Jahrhunderts schaffte die Filmtechnik ein raum – zeitliches Experimentierfeld für künstlerisch- architektonische Konzepte (Moderne), die einem Massenpublikum, ohne sich fortzubewegen, öffentlich eine neue Dimension der Wahrnehmung öffnet und vermittelt.

Durch die technische Weiterentwicklung wurden die Bilder perfekter und die Projektionsebene der Leinwand im öffentlichen Raum durch die Projektionsebene des Monitors innerhalb unserer räumlichen Systeme ergänzt. Die Vorstellung Wrights vom „brennenden Feuer tief im Herzen des Hauses“ ist durch den TV-Monitor abgelöst, welcher Öffentlichkeit in unsere Privatheit projiziert.

Somit gerät unsere gesellschaftliche Wahrnehmungsebene zum Ende des 20. Jahrhunderts immer stärker unter den Einfluss medialer Projektionen, sodass Geschwindigkeit und Art (Farbigkeit) ausgestrahlter Bilder geprägt werden. Parallel zum Verlust raumzeitlicher Übersicht durch die Entwicklung hochtechnologischer Kommunikation- und Verkehrsmittel, verläuft durch die Flut medialer Projektionen die Überlagerung unserer realen Wahrnehmungsebene und insgesamt der Verlust traditioneller räumlicher Parameter unserer Wahrnehmung. Der Verlust von Beziehungen zum realen Gesellschaftsraum und seiner in der Zeit eingeschriebenen Artikulation ist Gegenstand aktueller gesellschaftlicher Unsicherheit.

Die Zunahme und Akzeptanz von Orten der medialen Vernetzung (Stadion, TV – Studio), des Verkehrswesens (Flughäfen, Bahnhöfe, Autobahnen), des Konsumwesens (Einkaufszentren), die der französische Philosoph Marc Auge als „nicht-Orte einer Übermoderne“ bezeichnet, macht den latenten Bedarf eines urbanen Bewusstseins unserer Gesellschaft deutlich. Als große Herausforderung zukünftiger Architekturentwicklungen sollte hier die Rückübersetzung abstrakter Strukturen aus den Randbereichen unserer alltäglichen Wahrnehmung in eine verständliche Beziehung zwischen gegenständliche und projektierte Anteile des Gesellschaftsraumes gestellt werden.

Reinhard Wustlich definiert diesen Prozess als „Entwurf einer neuen Dimension der Wirklichkeit“. Es geht nicht mehr nur um ein Raumverständnis im klassischen Sinne, sondern vielmehr um Inszenierung von Raum funktional- atmosphärisch und in Bezug auf seine Wahrnehmung. Architektur und Raum verlieren dabei den Anspruch auf Endgültigkeit und werden innerhalb zeitgeistlicher Raumfelder als Ereignisse wahrgenommen. Zamp Kelp schreibt dazu, dass in Zukunft gut funktionierender, also differenziert auf Gesellschaft bezogener Raum, ähnlich wie Filmproduktionen von einem Team unterschiedlich ausgebildeter Experten kreiert werden wird. Es liegt an uns Architekten die Rolle des Regisseurs zu übernehmen.

 

 

Diego Rodriguez 1996

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